Mit „Am Ende der Welt traf ich Noah“ hat Irmgard Kramer ein packendes Jugendbuch voller überraschender Wendungen und einer großen ersten Liebe geschrieben. Ich hatte die Möglichkeit, die Autorin zu interviewen und sie über das Schreiben, ihre Einstellung zu Buchverfilmungen und Schullektüren und vielem mehr auszufragen.

Autorin Irmgard Kramer © Darko Todorovic

Irmgard Kramer © Darko Todorovic

Am Ende der Welt traf ich Noah von Irmgard Kramer © Loewe Verlag

„Fantasie ist mehrdimensional und gehört mir…“
Irmgard Kramer 

„Am Ende der Welt traf ich Noah“ ist Ihr zweites Jugendbuch. Was ist für Sie das Besondere daran, Bücher für Kinder und Jugendliche zu schreiben?

Meine Kinderzeit erschien mir endlos. Ich durfte mich sorglos durch Tag und Nacht träumen, während meine Mutter wie ein Schneepflug alle unschönen Seiten des Lebens beiseite räumte, ohne dass ich es merkte. Sie ließ mich verweilen auf Honigmonden und Himbeerwolken.

In meiner Jugend brach dann die Realität über mir herein wie die Flut eines geborstenen Staudamms. Ich sah, wie es in der Welt rund um mich herum bestellt war und wehrte mich gegen alles. Meine Eltern verstanden nicht, wie aus einem verträumten braven Kind ein aufsässiger, schwieriger Teenager wurde.

Sowohl meine Kindheit als auch meine Jugend haben sich tief in meine Erinnerung eingeprägt – das eine war besonders schön, das andere aufregend, intensiv und voller Umbrüche. Die 25 Jahre, die danach kamen, fühlen sich wie ein Einheitsbrei an und unterscheiden sich nur durch einzelne besondere Ereignisse.

Vielleicht schreibe ich deshalb für Kinder und Jugendliche; weil ich mich nach einer sorglosen und nach einer intensiv bewegten Zeit sehne, in der alles möglich scheint.

Vielleicht schreibe ich aber auch einfach nur die Geschichten, die sich mir aufdrängen und denke nicht darüber nach, wer das Zielpublikum sein wird. Wahrscheinlich ist das die bessere Antwort.

Lesen Sie selbst gerne Jugendbücher?

Ich lese Bilderbücher, Kinderbücher, Jugendbücher, Sachbücher, Belletristik und Klassiker. Eigentlich alles, wovon ich mir Neues oder Gutgemachtes erhoffe. Ein Buch muss mich unterhalten oder eine schöne Sprache liefern, es muss mich zum Nachdenken anregen oder mir neue Erkenntnis bringen. Hin und wieder passiert es, dass ein Buch all diese Kriterien erfüllt, wie „Der Distelfink“ von Donna Tartt oder „Butcher`s Crossing“ von John Williams. Solche Bücher lese ich dann immer wieder und kann nicht genug davon kriegen.

Wenn ein Buch nichts von diesen Kriterien erfüllt, lege ich es nach der Hälfte frustriert zur Seite. Früher habe ich viel mehr Jugendbücher gelesen. In den letzten Jahren bin ich oft enttäuscht worden – vielleicht trügt mich mein Eindruck, aber so viele Jugendbücher sind nach dem gleichen Muster gestrickt und langweilen mich ohne Ende. Vielleicht bin ich aber auch nur erwachsen geworden und gehöre definitiv nicht mehr zur Zielgruppe.

Haben Sie einen bestimmten Ort und eine bestimmte Tageszeit an der Sie besonders gerne schreiben?

Ich habe ein Arbeitszimmer. Ich stehe auf, setze mich an meinen Computer und schreibe. An Vormittagen bin ich produktiver als an Nachmittagen. Hin und wieder kippe ich abends in einen Schreibrausch, aus dem ich erst wieder um Mitternacht mit steifem Genick aufwache. Im Zug schreibe ich auch gern. Wenn die Landschaft vorbeizieht, bewegt sich auch was im Kopf.

Noah ist für mich ein Roman, der sowohl von Jugendlichen als auch von Erwachsenen gelesen werden kann. Planen Sie auch einen Roman zu schreiben, der sich speziell an Erwachsene richtet?

Ich habe schon etliches für Erwachsene geschrieben. Regelmäßig erscheinen Texte von mir in Magazinen. Romane sind noch nicht veröffentlicht und werden es vielleicht auch nie. Der Markt ist groß. Ich lasse das auf mich zukommen. Ein Projekt habe ich tatsächlich im Kopf. Mal sehen, was sich als nächstes aufdrängt. Im Moment habe ich noch ein paar Kinderprojekte zu erfüllen, von denen es Verträge gibt.

Sie haben bereits 2004 angefangen „Am Ende der Welt traf ich Noah“ zu schreiben.Welches Gefühl war es Ihr jahrelang gehütetes Buch zu veröffentlichen, waren Sie gespannt auf die ersten Leserreaktionen?

So wirklich lange hüten konnte ich das Manuskript nicht, dafür war ich viel zu stolz und aufgeregt, dass ich es bis ans Ende geschafft habe. Bereits 2005 habe ich dreißig Exemplare selbst ausgedruckt, notdürftig zusammengebunden und Freunden zu lesen gegeben. Für diese erste Fassung schäme ich mich heute zwar, aber meine Freunde waren großartig und haben mich bestärkt, weiter zu machen und nicht aufzugeben.

Der Roman steckt voller Überraschungen und Wendungen. Hatten Sie die Geschichte von Anfang an durchgeplant oder hat sie sich im Laufe der Zeit entwickelt und Sie vielleicht sogar einmal selbst überrascht?

Von diesem Roman gibt es so viele Fassungen, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Jetzt bin ich selbst überrascht, wie die Geschichte schlussendlich auf dem Papier gelandet ist. Von der ursprünglichen Fassung ist sie zwar weit entfernt, aber die Grundstimmung, die sich durch den Roman zieht, und ein gewisses Gefühl, das mich dabei begleitet hat, sind gleich geblieben.

Sie haben die Villa Maund, die als Vorlage für die Villa Morris diente, besucht. Hatten sie die Möglichkeit, eine Nacht dort zu verbringen?

In ersten Fassungen hatte ich eine fiktive Villa im Kopf. Eines Tages begegnete ich meinem Hirngespinst in der Realität und wusste: Hier muss die Geschichte spielen. Ich besuchte mehrere Führungen in der Villa Maund und baute viele Details in den Roman ein (das Schild im Hauseingang, auf dem 1891 steht, befindet sich übrigens links und nichts rechts – wie ich auf Seite 17 fälschlich geschrieben habe – das fiel mir erst auf, als ich das Buch in der Villa präsentierte). Übernachtet habe ich dort nicht. Ich glaube, das ist nur in Ausnahmefällen möglich. Die Villa wird ausschließlich für gewisse Veranstaltungen im Sommer geöffnet.

Die Villa Morris liegt sehr abgelegen und ist der perfekte Ort zum Nachdenken und um seine Alltagssorgen zu vergessen. Haben sie auch einen solchen Rückzugsort?

Der Wald ist für mich ein Rückzugsort. Zwischen Baumstämmen unter einem Dach aus Nadeln und Blättern, betäubt von dem Geruch nach Harz und Rinde, wird alles wieder ins rechte Licht gerückt und ich lande wieder dort, wo ich hingehöre: auf dem Boden.

Wären Sie in Marlenes Situation, hätten sie den roten Koffer genommen und die Chance genutzt, aus dem Alltag auszubrechen oder erleben Sie ihre Abenteuer lieber zwischen zwei Buchdeckeln?

Ich bin sehr neugierig. Dieses Wort trifft seine Bedeutung perfekt: Ich bin gierig auf Neues. Um diese Gier zu befriedigen, bin ich bereit, unbekannte Wege zu gehen. Ich glaube, ich hätte den roten Koffer genommen.

Marlene scheint in dem Moment, als sie den Koffer entdeckt, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Glauben Sie an Schicksal oder Vorsehung?

Oh, viel mehr als an Schicksal glaube ich an Eigenverantwortung, an den eigenen Willen und an Hartnäckigkeit. Wenn ich darauf warten würde, was das Schicksal als nächstes mit mir vorhat, kann ich meine Hände in den Schoß legen und brauche nichts zu tun. Aber erreiche ich dann, was ich will?

Ich habe zehn Jahre lang versucht, einen Verlag zu finden. Das „Schicksal“ brachte mich zu einem Seminar in Wolfenbüttel, das hieß „Wie bewerbe ich mich bei einer Agentur“. Dieses Seminar fand im perfekten Moment statt – nur wenige Wochen zuvor hat die Agentur Kinder- und Jugendbücher in ihr Programm aufgenommen und eine neue Agentin eingestellt, die noch Kapazitäten frei hatte. Sie hat mir schlussendlich alle Türen geöffnet. War das Schicksal? Einerseits ja. Eine riesige Portion Glück war dabei. Andererseits war die Chance, bei all meinen Versuchen, irgendwann die richtige Person zu treffen, relativ hoch. Ich war hartnäckig und ich habe ausdauernd an meinen Texten gearbeitet, dafür hat mich das Schicksal belohnt.

Die Personen auf die Marlene in der Villa trifft sind alle sehr eigen und skurril. Nehmen sie sich beim Schreiben reale Menschen als Vorbilder für die Charaktere in ihren Büchern?

In diesem Buch gibt es keine realen Menschen als Vorbilder. Das liegt vielleicht daran, dass diese Figuren eine symbolische Bedeutung haben und etwas Bestimmtes verkörpern. In anderen Geschichten nehme ich sehr wohl gewisse Eigenschaften realer Menschen als Vorbilder oder habe Bilder von jemandem im Kopf.

Sie beschreiben ihre Geschichte sehr detailliert und bildhaft, sodass man das Gefühl hat, die Villa und ihre Umgebung wirklich sehen zu können. Wie ständen Sie einer Verfilmung ihres Romans gegenüber?

Über eine Verfilmung würde ich mich im ersten Moment so freuen, dass ich Luftsprünge machen und Bäume umarmen müsste. Im zweiten Moment hätte ich schreckliche Angst und wäre voller Skepsis. Leider sind Buchverfilmungen meistens nur sehr schlechte Kopien des Originals und ich kenne einige Autorinnen, die furchtbar enttäuscht wurden von den Verfilmungen ihre Bücher. Aber wenn der Film gut gemacht wäre … tja, ich glaube, da hätte ich nichts dagegen.

Finden Sie, dass Buchverfilmungen die Fantasie und Vorstellungskraft der Leser einschränken?

Vielleicht kommt’s auf die Reihenfolge an. Wenn ich ein Buch oft genug gelesen habe, brennt sich mir ein Bild in den Kopf. Dann kann ich den Film als unabhängiges Werk sehen und zwischen den beiden Bildern (meinen eigenen und den gefilmten) hin und herschalten. Aber manchmal sind die Filmbilder so aufdringlich, dass sie die eigenen Bilder mit der Zeit übermalen. Meine eigene Harry-Potter-Welt habe ich beispielsweise nach den vielen Verfilmungen vergessen. Die kommt nie wieder zurück und das finde ich schade. Fantasie ist mehrdimensional und gehört mir, Filme nicht (da nützt auch kein 3-D).

Könnten Sie sich den Roman als Schullektüre vorstellen oder finden Sie, dass das genaue Analysieren und Interpretieren im Unterricht den Zauber eines Buches zerstört?

Über meine Finanzen bräuchte ich mir dann wohl keine Sorgen mehr zu machen. (Ich habe mal eine Zahl gehört, was ein Autor verdient, dessen Buch „Sternchenthema“ im Abitur ist). Abgesehen davon sträubt sich alles in mir, wenn ich mir vorstelle, dass Schüler mein Buch lesen müssten. Viele würden es hassen und sich quälen. Andere würden sich zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn eine Zusammenfassung aus dem Internet laden oder sich was zusammen reimen. Sie haben das passend geschrieben – Ich glaube, es würde den Zauber zerstören.

Vielen Dank für das Interview.

Herzlichen Dank für die schönen Fragen.

 

von Tessa Marie Scholler
Das Interview wurde im Oktober 2015 auf dem Bücherkinder-Blog erstveröffentlicht.