Denken ist schwerer, als man denkt. Und damit ist die Thematik, die zumindest mich hier und anderswo immer wieder beschäftigt, um­ und eingekreist: Das Denken ist sein eigener Herr und sein eigener Knecht in Personal­ union. Tatsächlich in Personal­Union: denn nichts ist

der Person so nahe wie ihr Denken, naja, das Begehren vielleicht. Das Denken entgeht sich nicht. Gegen zu viel Denken (wenn das möglich sein sollte) hilft nur eines: noch mehr denken (Marcel Proust). Es ist nicht alles Denken, was klug daherkommt. Das Denken ist und kann nicht alles. Diese Einsicht allerdings darf nur aus dem Denken selbst kommen. Der Herr, der zum Knecht wird; der Knecht, der seinen Herrn entlässt. Das Denken ist der Sancho Pansa (frz. penser = denken …) des Don Quichotte.

Das Wesen des
Denkens
ist Ortlosigkeit

Das Denken ist ein Phänomen der Passage, ein Durch­ gangsort, kein Ort des Bleibens, keine Endstation, sein Wesen ist Veränderung, Trans­Zendenz. Es setzt dort an, wo kein Bleiben ist. Das Wesen des Denkens ist Ort­ losigkeit. „Wo sind wir, wenn wir denken?“ (Hannah Arendt). Nirgendwo. Die Ortlosigkeit aber ist die Utopie. Denken ist Staunen: vom Inhalt her ephemer, im Wesen stationär.

Illegaler Immigrant 1 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 1 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 2 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 2 © Katrin Bruder

Bahnhöfe sind keine Orte des Denkens; sie, bzw. die sie Bevölkernden, haben es entweder hinter sich gelassen oder noch vor sich. Denn wir müssen denkend das Denken hinter uns bringen oder Bewusstsein davon entwickeln, dass es noch vor uns liegt. Wir entgehen, entkommen dem Denken nicht – oder nur um einen Preis, den wir höchstens mittels erdrückender Hypothek auf unser Menschsein selbst bezahlen können.

Der Sesshafte
entgeht
dem Denken

Es ist ein weiter Weg vom „Bahnhof verstehen“ zum Verstehen von Bahnhöfen. Bahnhöfe sind die Heimstatt der Utopien. Sie sind Zwischenstationen (und als End­ station sind sie das umso mehr!). Was auf Bahnhöfen geschieht, ist nicht mehr da, um verstanden zu werden. Ankunft und Abschied, Ankommen und Abfahren sind die transzendentalen Akte schlechthin. Der Sesshafte entgeht dem Denken. Die Sesshaftigkeit ist die Feindin des Denkens. Große Denker finden sich unter den Rast­ losen: Friedrich Nietzsche hat explizit den Widerspruch zwischen Denken und Sitzen postuliert und praktiziert.

Doch wie kommt das Denken in den Wald? (Außer auf Holzwegen.) Besser: was macht das Denken im Wald? Adoration statt Reflexion. Wenn das Denken in den Wald kommt, vergisst es die Bäume. Die vom Einzelnen und der Vereinzelung: von der Isolation ausgehende Irritation wandelt sich in unmittelbare Erfahrung des Ganzen. Vom Denken zur Andacht. Uns, den „Schwindendsten“ (Rilke), widerfährt Bleibendes. So tief und mystisch und dunkel und kryptisch die Höhle auch sein mag: Was uns am meisten bewegt, sind die Höhlenausgänge (Hans Blumenberg).

der Wald
ein Refugium

Wald: Einmal abgesehen von der profanen Tatsache, dass der Wald auch Besitzer hat, manchmal sogar große, und abgesehen davon, dass es der Philosophie um Profanes zwar meist, aber doch in sehr subtilen Formen geht, abgesehen davon und von noch mehr (nicht zuletzt abgesehen davon, dass das Ab­Sehen­Können, das gerade nichts zu tun hat mit dem Haben von Ab­Sichten, eine durchaus unterschätzte Übung ist), ist der Wald ein Refugium. Ein Refugium für das Private, wie die Höhle auch. Kein Niemandsland also. Ein Niemandsland, so erweist es sich angesichts der leider im 21. Jahrhundert ihre Fortsetzung findenden katastrophalen Erfahrung von Massenflucht und ­vertreibungen des 20. Jahrhun­ derts, ein Niemandsland ist ein Land, das dich zum Niemand macht. Somit sind Niemandsländer stets Länder mit ausgeprägter Autoritätsstruktur, genauer: totalitäre Gebilde.

Illegaler Immigrant 3 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 3 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 4 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 4 © Katrin Bruder

Das Andere
der Utopie
ist
die Unbehaustheit

Nur ein Auf­ und Abgehobener wie R.M. Rilke kann (in seiner 9. Duineser Elegie: die ja bis in den Titel hinein verortet ist) singen: „Aber weil Hiersein viel ist …“ Für Abertausende Vertriebene, ihrer (Staaten­)Zugehörig­ keit gewaltsam, niederträchtig, heimtückisch Beraubte, war und ist das Hiersein (wo auch immer) mehr bzw. weniger als gar nichts: das Existenz­Problem schlechthin; oder, wie Hannah Arendt analysiert: Die Staaten­ losigkeit wird – von den Verstaatlichten – zur Illegalität, zur Rechtlosigkeit per se gemacht. Noch schlimmer als fehlende Ausgänge: Die Höhle, in der du drin bist, hat plötzlich keinen Eingang mehr. Das Andere der Utopie ist die Unbehaustheit.

Das Problem (um nicht zu sagen: der Feind) des Denkers ist nicht das Denken, sondern der Nichtdenker; wie das Problem (d. h. der Feind) des Heimatlosen nicht die ver­ lorenen Heimaten sind, sondern die Beheimateten. Die Sesshaften rechtfertigen ihre Unbeweglichkeit durch Gewohnheiten: Ihre Heimat ist nichts als eine Wohnung, in der das Gewöhnliche geheiligt wird (und damit der Kritik, dem Denken entzogen). Wer das Draußen kennt, wer den Trick durchschaut, wer frei ist, wird zum Feind. Gemeint ist die „in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit, durch Ablehnung der Teilnahme an Mystifikation von Banalität“ (Vilém Flusser).

Freiheit
der Heimatlosigkeit

Illegaler Immigrant 5 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 5 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 6 © Katrin Bruder

Illegaler Immigrant 6 © Katrin Bruder

Nicht von ungefähr ist das Thema Heimat sehr nahe dem Thema Kitsch angesiedelt. In beiden Fällen feiert der Dogmatismus fröhliche Urständ. Das Dogma wiederum ist das Andere des Denkens; und der Wald als das Unheimliche ist das Andere der Heimat. Bahnhöfe sind das Zuhause der Unbehausten.

der Zeit
und
der Zukunft
nicht Herr

Wenn „erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer weiß, dass er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist“ (Ernst Cassirer), dann findet er sein Urbild im Wald und im Denker: im Denker im Wald. Kein Wald ohne Lichtung.

 

Peter Natter