Unterwegs durchs Leben machen wir in Häusern Station. Mit uns ziehen die Schatten unserer Gemeinschaft ein, das Haus wird zum Sitz der Gesellschaft. Es birgt das Unten, die Mitte und das Oben. Die meisten von uns halten sich am liebsten in der Mitte auf, unten ist es zu düster, oben zu riskant.
© Nora Fuchs
© Nora Fuchs
Ein Bahnhof ist jenes Haus, in dem wir – mit Ausnahme des Bahnhofspersonals – die kürzesten Stationen unseres Lebens verbringen. So rasch, wie wir angekommen sind, verlassen wir den Bahnhof wieder. Er ist eine Durchzugs station. Passieren wie im Fall von Andelsbuch keine Züge mehr den Bahnhof, bleibt nur das Echo jener, die einst durchgezogen sind – und das Schattenspiel verlorener Gemeinschaft.
Echo, Schatten an den Wänden und ihr Spiel – der Bahn hof ist zum Schauspielhaus ohne Menschen geworden, zum Theater für niemanden. Die Station Andelsbuch, eine Kunsthalle am Kontinent Niemandsland. Um den Bahnhof zu verstehen, und „Bahnhof verstehen“ ist ein Synonym für gar nichts verstehen, wollen wir zur langen Nacht der Museen, also zu Geisterstunde, sein Echo und sein Schattenspiel verstärken.
© Nora Fuchs
© Nora Fuchs
© Nora Fuchs
Unten, im Keller des Bahnhofs, entdecken wir die Basis unserer Gesellschaft, die Gesetzlichkeit oder das Gesetz, auf dem unser Rechtsstaat und unsere zivile Gesellschaft gründen. Nicht zufällig sieht es hier recht düster aus, das Gesetz erzwingt seine Einhaltung durch das Gefängnis.
Der Keller ist Kerker für jene, die schon allein durch ihre Anwesenheit gegen das Gesetz verstoßen – die sogenannten illegalen Immigranten. Sie begehen bereits einen Gesetzesbruch, wenn sie eine Grenze über schreiten und in einen Rechtsraum treten, zu dem sie nicht gehören. Allein das bringt sie ins Gefängnis und in Schubhaft. Idealerweise befinden sich Schubhaft gefängnisse an Flughäfen, bei Schiffsanlegestellen oder in Bahnhöfen, damit die illegalen Immigranten gleich dort wieder hinausgeworfen werden können, wo sie herein gekommen sind.
Porträts von illegalen Immigranten im Keller des Bahnhofs erinnern uns daran, dass wir unsere gesell schaftliche Ruhe durch beunruhigendes Verfahren mit anderen Menschen erkaufen. Friedrich Hölderlin meint dazu: „Der Mensch kann Gesetzlichkeit nicht überall ertragen, weil er ihrer nicht überall bedarf.“
Zu ebener Erde, also zwischen Unten und Oben, liegt der Mitteltrakt. Hier gingen einst die Ankommenden und Abfahrenden durch, hier wohnte der Stationsbeamte mit seiner Familie. Wir befinden uns in der Stube. Das Wort verströmt Behäbigkeit und Gemütlichkeit – eine Seelen ruhe, die uns das düstere Gesetz im Keller unter unseren Füßen verschafft. Aber wer mag an dieser Stelle schon daran denken?
In der Stube empfangen wir Gäste, ihnen möchten wir natürlich auch unsere Kultiviertheit vor Augen führen. Dem Mittelstand kommt die Erhaltung der Kultur einer Gesellschaft zu, dementsprechend müssen wir uns anstrengen. So hängen wir Landschaftsbilder an die Wand, kleinformatige, denn wir geben uns kultiviert und protzen nicht. Zur Erhebung erklingt zusätzlich die Musik eines Kammerorchesters. Freilich leben wir nicht mehr in der Welt eines Stationsbeamten, daher stellen wir auch an unsere privaten Kunstrituale höhere Ansprüche. Unser Kunstgenuss sei durch Bewusstseins steigerung veredelt!
Demgemäß bringt das concrete chamber orchestra im Bahnhof ein Musikstück mit dem Titel „escapism“ zum Vortrag. Es spielt auf die Thematik von Reise, Tourismus, Träumerei und Weltflucht, aber auch auf das Flüchtlings dasein an. Was uns wieder „die da unten“ in Erinnerung ruft, an die wir sonst nicht so gern denken.
Die Landschaftsbilder zeigen in einer postroman tischen Manier einen Moment der Suche nach dem Stein der Weisen, das Zwischenergebnis eines alchimistischen Prozesses, die Pechblende. In Säure erhitzt, erbringt sie das radioaktive Metall Uran.
Wir schmücken also unsere Stube mit Kunst und Musik, auch wenn beide eher beunruhigende Botschaften vermitteln. Doch als Kunst und Musik erfahren, ver lieren wir unsere Angst vor diesen Botschaften und können ihre ästhetische Vermittlung genießen.
Oben, am Dachboden des Bahnhofs, breitet sich die Warenfülle unserer Konsumgesellschaft vor uns aus. Hier, am höchsten Punkt, dem Standort der Oberschicht, steht alles zur Verfügung, Kunst und Krempel. Eine schier unüberblickbare Menge an Dingen. Sie sind an sich wertlos, erhalten jedoch durch die Bedeutung, die wir ihnen in unserer Gesellschaft zumessen, Geldwert.
Die Bedeutung eines Dings lesen wir an seiner Marke, seinem Namen oder der Umgebung ab, in der es erscheint – und dementsprechend bewerten wir es. Was wir am Dachboden des Bahnhofs als nutzlosen Krempel erblicken, wird in der Aura eines Museums oder einer Sammlung zum wertvollen Kunstwerk. Unter einem berühmten Namen kann unser Abfall als Sinnbild des Besten unserer Gesellschaft überdauern. In anderen Ländern, Indien bei spielsweise, wären diese in unseren Augen unansehnlichen Dinge als nützliche durchaus begehrt.
Reich sein bedeutet, die Erinnerung an jene Mühsal und Arbeit vergessen zu können, die in den Dingen ste cken – und das Ding kann auch ein Kunstwerk sein. Daran genießen Betrachter und Sammler weder Schweiß noch Verzweiflung einer Künstlerin bei der Herstellung, sondern die geruchlose Distanz zu diesen unappetitlichen Begleiterscheinungen. Kunst ist für reiche Ästheten rein, und je dreckiger der Schöpfungsprozess war, desto reiner der Genuss.
Reiche Menschen haben alles, ohne es zu benötigen. Sie haben es, weil sie es sich leisten können, das Haben genügt ihnen – und der Neid der Habenichtse.
Natürlich reicht es ihnen noch lange nicht, alles zu haben. Wer auf Erden alles hat, greift schließlich auch nach den Sternen, nach dem Allerhöchsten, nach dem Außerweltlichen, dem Transzendentalen, der Illusion von Ewigkeit, kurz, nach Macht und Religion.
© Nora Fuchs
© Nora Fuchs
Beides findet sich nicht im Haus, weder im Keller, noch in der Stube, noch auf dem Dachboden aller Dinge. Wer Macht und Religion erfahren will, muss das Haus, den Bahnhof, verlassen und an die Öffentlich keit gehen. Die Macht stand einst auf einem Stein oder unter einem mächtigen Baum, den die Religion gepflanzt, zum heiligen Hain erweitert und schließlich ausgeholzt hat. Macht und Religion dürfen sich durch keine Wände einschränken lassen, sie müssen den Eindruck erwecken, als könnten sie die ganze Erde und den Himmel umspannen.
Daher brauchen Macht und Religion öffentliche Räume, die Thingstätte, den Marktplatz, die Agora, den Hain und den Tempel. Praktischerweise, selbst den Mächtigen regnet oder schneit es zuzeiten auf den Kopf, schafft man den Plätzen von Macht und Religion ein Dach (samt Dach boden, auf dem man die Steuern und Tempel opfer horten kann). Am besten auf Säulen, damit das öffentliche Gebäude nicht mit einem Haus verwechselt wird.
Wenn aber doch Wände sein müssen, dann ungeheuer hohe, die keine häusliche Funktion, sondern einen Anspruch verraten – hohe Wände finden wir bei Kathedralen (den sogenannten „steinernen Wäldern“), Domen, Schlössern und bei Regierungsgebäuden – so auch beim Gemeinderatsaal von Andelsbuch. Die meter hohen Wände aus edlem Holz – keinen Nagel darf man einschlagen – vermitteln dieser zeitgemäßen Thingstätte der Gemeindepolitik die Aura von Macht und Transzendenz.
Um ihnen höhere Weihen zu verleihen, hängen Kunst werke, diese Monstranzen zeitgenössischer Religiosität, in den Räumen von Politik und Verwaltung, großforma tige Gemälde, die in den Stuben der Wohnhäuser keinen Platz fänden – schon bei ihrer Herstellung war das klar. „Religion“, schreibt Hölderlin, „ist Liebe zur Schönheit“, und sie braucht ihre entsprechenden liturgischen Vor bilder, nämlich repräsentative Kunstwerke.
Durch die Einhängung großformatiger Gemälde in den Gemeinderatsaal kommt das gemeinsame, also öffentliche Bedürfnis nach Schönheit zum Ausdruck. Wir erwarten uns von diesen repräsentativen Vorbildern spirituelle Erfüllung und Überhöhung unserer profanen Politik. Dabei fordern wir heute von ihr ebenso wie von Schönheit, Religion und Kunst keine pompöse Über wältigung mehr, sondern authentische Repräsentation unserer Wünsche und Probleme.
Dies findet in den Motiven der Gemälde seinen Niederschlag: Sie zeigen unter dem Titel „Kontinent Niemandsland – Neptunium“ eine zum Meditieren ein ladende Natur, doch zugleich auch leere Räume und nichtssagende Öde – dargestellt ist das radioaktive Schwermetall Neptunium. Sie thematisieren die neue, naturschöpferische Macht des Menschen, wie sie in den Transuranen zur Geltung kommt, zu denen auch das Neptunium gehört. Zugleich vermitteln sie die Leere dieser Macht: Kein Mensch kann in Gegenwart der hochradioaktiven Schöpfung existieren.
Während die Bilder hier eine Weile hängen, wird unter ihnen Tagespolitik gemacht. In längeren Sitzungen dürfte sich manch politischer Blick aus Langeweile daran verhängen. Was mag sich der Kerl, der das gemalt hat, gedacht haben? Wenn das Kunst sein soll, verstehe ich bloß Bahnhof. Dies ist durchaus ein guter Gedanke, dem zu folgen es sich wirklich lohnt. Denn mit „Bahnhof verstehen“ fängt alles an.
Christian Ziller & Nora Fuchs
© Nora Fuchs
© Nora Fuchs
Auf der ehemaligen Trasse der Wälderbahn vor dem Bahnhof Andelsbuch, Aufnahme vom 16. Juli 2008:
RECon container mit system, RCL 150801001, Kufstein;
Moosbrugger, Sonderegger Kranservice, Hard,
Liebherr Type 28 SE, Baujahr 1998, Seriennummer LE-16076;
Container Rühland Kunststofftechnik, Braunschweig; Container Sulo Umwelttechnik, Herford;
Container Waizinger, Steyr;
Altbrot-Container, Andelsbuch;
„Kleiderspende Caritas“, Katholische Kirche Vorarlberg;
Schwarzmüller, Hainbach, Fahrzeugidentitätsnummer W09|63330|HS09672, Besitzer: Moosbrugger, Andelsbuch.
Außerdem ein ausrangierter Waggon der ehemaligen Wälderbahn.